Ätherische junge Mädchen mit unordentlich hochgestecktem Haar, ausdrucksstarken Augen und tiefgründigem Blick – der Stil von Paolo Roversis Fotografien ist unverkennbar. Seine Bilder haben die Aura von ersten fotografischen Verfahren oder Autochrombildern des späten 19. Jahrhunderts, gleichzeitig zeigen sie die größten Topmodels und die neuste Mode der Zeit ihrer Entstehung.
Ein Interview von Galia Loupan, adaptiert von Lola Kossack und Julia von Esebeck
Auf Roversis Bildern, die derzeit in einer wegweisenden Ausstellung im Palais Galliera in Paris zu sehen sind, sind sie alle vertreten – Name um Name, Gesicht um ikonisches Gesicht: Yamamoto, Comme des Garçons, Galliano, Alaïa, Kate Moss, Naomi Campbell, Guinevere Van Seenus, Inès de la Fressange, Natalia Vodianova. Sie alle sind durch das sagenumwobene Studio Luce im 14. Arrondissement in Paris gegangen. Das unscheinbare Gebäude in einer ruhigen Kopfsteinpflasterstraße ist der Ort, an dem wir Paolo Roversi treffen, um über seine Jugend und seine Arbeit zu sprechen und darüber, wie Marie Claire sein Leben verändert hat.
Sie haben in Ihrer Ausstellung erwähnt, dass der erste Auftrag von Marie Claire für Sie sehr wichtig war und dass Sie „vor Freude gesprungen sind“, als Sie im Jahr 1977 den Anruf erhalten haben …
Paolo Roversi: Damals leitete die legendäre Claude Brouet Marie Claire. Marie Claire ist eines der ersten Modemagazine, für die ich gearbeitet habe. Als ich 1973 in Paris ankam, hatte ich sehr wenige Kontakte. Und die erste bedeutende Serie, die ich für Marie Claire gemacht habe, ist genau die erste, die ich mit dem 20×25-Polaroid, wissen Sie, meinen Großformaten, gemacht habe. Ich brachte sie ins Redaktionsbüro, und wurde gefragt, wo die Abzüge seien. Ich antwortete: Das ist alles, was es gibt, ich habe keinen Film benutzt. Sie schickten sie zum Drucker, der sie zurückschickte. Ich sagte, dass es wie ein normaler Farbdruck sei. „Probieren Sie es einfach aus!“ Letztendlich wurden die Bilder gedruckt, und von da an wurden meine Polaroids von der Presse akzeptiert. Marie Claire war die erste, die sich darauf eingelassen hat.
Sind Sie jemals zum Fotografieren mit Film zurückgekehrt?
Paolo Roversi: Ab diesem Zeitpunkt habe ich nur noch Polaroids verwendet; Polaroids wurden mein Markenzeichen. Damals verwendeten Fotografen sie nur für Testaufnahmen, bevor sie das eigentliche Foto auf Film machten. Polaroids wurden eingesetzt, um Licht, Ausschnitt und Einstellungen auszuprobieren. Magazine waren es nicht gewohnt, Polaroids zu bekommen. Aber für mich wurden sie, als ich sah, was ich damit machen konnte, das Endresultat. Ich brauchte keinen Film mehr; das Polaroid war das Ergebnis selbst. Sie sind wie eine Daguerreotypie oder ein Autochrom: ein einzigartiger Abzug. Ich habe 30 Jahre lang Polaroids fotografiert, lange Zeit im Großformat. Ich begann mit Farbe und wechselte allmählich zu Schwarzweiß. Und letztendlich habe ich beides gemacht.
Im Jahr 2008 stellte Polaroid die Produktion ein. Wie sind Sie damit umgegangen? Hat die Digitalisierung Ihre Arbeitsweise beschleunigt?
Paolo Roversi: Auch in der digitalen Fotografie verwende ich weiterhin Langzeitbelichtungen. Wenn ich mit einer Taschenlampe arbeite, ist die Belichtung zwangsläufig lang, weil es dunkel ist. Die Linse ist vollständig geöffnet, aber im Dunkeln fällt kein Körnchen Licht auf den Film. Sobald ich meine Taschenlampe einschalte und einen Teil meines Motivs beleuchte, wird dieser Teil belichtet. Es ist eine alte fotografische Technik, sehr einfach, genannt Lichtmalerei. Ich habe sie nicht erfunden. Vielleicht bin ich der Erste, der sie auf die Modefotografie anwendet. Ich mag es, die Fotografie als eine schwarze Seite zu betrachten, auf der ich mit Licht schreibe. Musik wird auf einer weißen Seite geschrieben, Zeichnungen werden auf einem weißen Blatt gezeichnet, aber Fotografie ist eine schwarze Seite, die wir mit Licht markieren. Es ist eine Arbeit im Dunkeln. Das Innere einer Kamera ist schwarz, eine Dunkelkammer ist dunkel, wie der Name schon sagt … Schwarz ist für die Fotografie wesentlich, weil sich Licht im Dunkeln ausdrückt.
Und tatsächlich hat Ihre Fotografie eine spektrale Qualität …
Paolo Roversi: Ja, Fotografie ist für mich die Kunst der Nostalgie. Ich weiß nicht, wie ich es anders sagen soll: Die Gegenwart der Vergangenheit ist die Gewohnheit der Gegenwart. Die Vergangenheit ist verschwunden, aber sie ist durch die Fotografie präsent. Das fasziniert mich. Es kann etwas Gespenstisches haben, wenn man ein Foto von jemandem betrachtet. Es ist eine Vorstellung, dass jemand vor uns steht, es ist eine abwesende Präsenz, eine gegenwärtige Abwesenheit. Diese Ambiguität gefällt mir sehr.
Es ist sehr bewegend, in der Ausstellung das allererste Foto zu sehen, das Sie im Alter von 9 Jahren gemacht haben, von Ihrer Schwester im Ballkleid. Wussten Sie damals, dass Sie Fotograf werden würden, dass das Ihr Leben sein würde?
Paolo Roversi: Nein, überhaupt nicht. Damals war es ein Spiel, etwas Magisches. Tatsächlich habe ich diese Entscheidung nie bewusst getroffen. Ich habe nie zu mir selbst gesagt: „Morgen werde ich Fotograf sein.“ Es geschah zufällig, Stück für Stück. Ich war glücklich darüber, dass es passierte, aber es ist nichts, was ich entschieden habe. Es ist mir einfach passiert.
Hier in Ihrem Studio haben Sie schon viele Größen der Modewelt empfangen. Können Sie uns mehr über diesen Ort erzählen?
Paolo Roversi: Eines Tages hatte ich die Idee, mein Studio selbst zum Thema meiner Arbeit zu machen. Tatsächlich habe ich ein Buch namens „Studio“ gemacht. Ich wollte meine täglichen Werkzeuge, die mir bei meiner Arbeit dienen, einmal in den Mittelpunkt rücken und sie als Subjekte meiner Fotografie betrachten. Ich wollte die Kamera, die Lampe, den Hintergrund, die kleinen Hocker fotografieren, so wie ich ein Mädchen, einen Jungen oder ein Kleidungsstück porträtieren würde.
Sie zeigen viel Respekt gegenüber Frauen und arbeiten gern immer wieder mit denselben Frauen zusammen. Sind einige von ihnen Ihre Freunde geworden?
Paolo Roversi: Ja, wenn ich mich gut mit einem Model verstehe, entsteht das, was ich gern eine fotografische Freundschaft nenne. Es ist ein gegenseitiges Vertrauen, das sich entwickelt, eine Art Freundschaft. Ich genieße es, Sitzungen mit dieser Person zu wiederholen, weil es die Arbeit erleichtert, vertieft. Alles fließt. Es ermöglicht mir, weiter in die Bilder und in die fotografische Beziehung zu gehen. Für mich ist das Model vor allem ein Mensch mit seiner Persönlichkeit, seinem Charakter und seiner Menschlichkeit, die mich tief berühren. Ich suche nach dem Geheimnis, versuche es zu enthüllen, aber nicht ganz. Ich möchte nur einen Teil dieses Schleiers lüften, denn ich mag es lieber, wenn es ein wenig mysteriös bleibt.
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Sie haben mit einigen der bedeutendsten Designer Ihrer Zeit zusammengearbeitet, darunter auch die avantgardistischen japanischen Designer, deren Arbeit Sie auf eine fast historische Weise präsentieren. Was hat Sie an der Zusammenarbeit mit ihnen besonders beeindruckt?
Paolo Roversi: Rei Kawakubo verkörpert eine Verschmelzung japanischer und westlicher Kultur – in ihrer Arbeit vereint sie sowohl östliche als auch westliche Einflüsse. Für mich ist es einfach, mit diesen verschiedenen und fast gegensätzlichen Interpretationen zu arbeiten. Ich habe immer große Bewunderung für sie und ihren Ansatz zur Mode gehabt. Sie hat mein fotografisches Auge für ihre Kreationen immer geschätzt und mir vertraut. Die Beziehung zu den Couturiers war für mich von großer Bedeutung. Ich hatte das Glück, eng mit ihnen zusammenarbeiten und gemeinsam mit ihnen eine bestimmte Ästhetik und Atmosphäre schaffen zu können. Stellen Sie sich vor, ich hatte sogar Momente in meinem Studio, in denen Azzedine Alaïa die Modelle persönlich eingekleidet hat oder John Galliano das Styling übernommen hat. Ich vergleiche das oft mit einem Pianisten, der ein Stück von Mozart spielt, während Mozart selbst die Notenblätter umblättert. Es ist eine unglaubliche und erhebende Erfahrung.
Wer sind Ihre Vorbilder? Welche Fotografen haben Sie am meisten inspiriert?
Vor allem Nadar. Aber ich ziehe Inspiration aus dem Werk aller großen Porträtfotografen. Diane Arbus zum Beispiel hat mich besonders beeindruckt.
Wie sehen Sie die heutige Fotografie? Lassen sich neue Fotografen auch von Ihnen beeinflussen?
Paolo Roversi: Natürlich hat die moderne Fotografie ihren eigenen Reiz, aber ehrlich gesagt schaue ich mir eher die Werke der großen Meister an. Trotzdem gibt es junge Fotografen, die wirklich interessant sind und mich fast genauso inspirieren wie die alten Meister. Was mir allerdings nicht gefällt und was ich echt nervig finde, ist die unglaubliche Flut an Bildern heutzutage. So viele Fotos ohne Zweck, gemacht ohne Grund, ohne Liebe, ohne Freude. Das ist einfach zu viel für mich.
Wenn Sie an Ihre Kindheit denken, hat Ihr Aufwachsen in Ravenna Ihre Arbeit beeinflusst?
Ich weiß nicht, wie stark Ravenna meine Arbeit beeinflusst hat. Ich bin neben den Sarkophagen von Kaisern aufgewachsen und war von den Mosaiken der Galla Placidia umgeben … Das hat definitiv meine Art zu sehen und meine Kreativität geprägt. Diese historischen Einflüsse schwingen in meiner Arbeit mit, ob ich möchte oder nicht, besonders in meiner Farbgebung und den Licht- und Schattenspielen. Ich erzähle oft davon, wie wir als Kinder beim Fußballspielen die Tore auf byzantinischen Mauern mit Kreide markierten. All diese Erinnerungen sind tief in meinem Unterbewusstsein verankert.
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