von Radu-Andrei Istriteanu
Er ist ein Sinnbild für den Beruf des Modedesigners. Man dachte, seine glorreiche Karriere wäre 2011 vorbei, doch der exzentrische Brite steht wieder im Fokus. Durch die letzte Maison Margiela Artisanal Kollektion Frühling/Sommer 2024 wurden alle Modefans an seine außergewöhnliche Begabung erinnert. Am 19. September auf der Mailänder Fashionweek wird Maison Margiela die Schwesterkollektion MM6 zeigen – wird sie trotz eines anonymen Designerteams einen Hauch Galliano verkörpern?
Im Licht des ersten Vollmonds dieses Jahres, unter Pont Alexandre III. in der französischen Hauptstadt, präsentierte Maison Margiela in einem ritualartigen Spaziergang durch die Unterwelt ihre neueste Couture-Kollektion. Nur gedämpft konnte man die Stimmen und Autogeräusche an der Oberfläche der Erde hören. Was aber deutlich wurde, war der sofortige Erfolg der Show. Im Zentrum der Arbeit stand die Erforschung einer neueren, extravaganten, historischen Silhouette, erkennbar an den äußerst engen Korsetten. Die darunter liegende, sichtbare Unterwäsche, die in mühsamer Handarbeit aus feinem Menschenhaar gefertigt wurde, erinnert sehr an die französischen Nacktfotopostkarten der Belle Époque. Die Schnitte waren verdreht, die Oberflächen dekonstruiert und die Stoffe sorgfältig abgenutzt. Im Großen und Ganzen war es eine wunderbare Komposition aus dem Romantischen mit dem Sinistren. Jeder Charakter stand für sich und die Bewegungen der Models sprachen für sich selbst. Das Lob von den Modemedien hielt sich daher nicht in Grenzen und die Freude an dieser neuen, dunklen Welt im Netz war riesig. Zusammen mit seinem Lead Make-Up-Artist, Pat McGrath, erfanden beide Legenden das „Margiela Skin“, inspiriert von der Farbe und Oberfläche von Porzellanpuppen aus dem 19. Jahrhundert. Mit einer gewissen Leichtigkeit baute Pat Schicht für Schicht alle Looks auf. Eine Arbeit, die nicht nur für immense Furore auf Instagram und TikTok sorgte, aber auch an die längst in Vergessenheit geratene Zusammenarbeit von den beiden, für die Marke Dior in den 2000er Jahren, erinnerte.
Nach seinem Umzug nach Paris in den frühen 1990er Jahren wurde Galliano der erste Brite, der die kreative Leitung des französischen Couture-Hauses, Givenchy, Juli 1995 übernehmen sollte. Es dauerte nicht lange, bis der Erfolg nochmal einschlug und er von Bernard Arnault zum Kreativdirektor von Dior 1997 ernannt wurde. Dabei war er zu dem Zeitpunkt nur 36 Jahre alt, somit noch relativ jung für die Rolle. Er katapultierte sich mithilfe berühmter Persönlichkeiten, wie Anna Wintour, in die französische Modeszene, die die Einzigartigkeit in ihm sahen.
Jahrelang erforschte Galliano verschiedene Kulturen und tat das immer mit einem prägnanten Sinn für Spaß. Opulenz war in seinen Augen ein Werkzeug für Unterhaltung. Sein romantischer, historisch angehauchter Stil verhalf ihm immer wieder Schwung und Leben in dem jeweiligen Modehaus zu bringen. Er ist bekannt für seine immersiven Shows und er redefinierte, was eine Modenschau überhaupt sein konnte, immer mit dem Fokus auf das Storytelling: Im Herbst 1997 ließ er Jayne Mansfield durch den Orient reisen. In der Opéra Garnier brachte er 1998 die Geschichte der italienischen Erbin, Luisa Casati, zum Leben. Angelehnt an den Film Matrix, erschuf er im Jahr 2000 in Versailles eine neue Dimension, geprägt von einem metallischen, dennoch kämpferischen Futurismus. Galliano gilt als Visionär, der sogar in der Lage ist, erklären zu können, welche Emotionen in einer Rüsche zu finden sind. Galliano setzte einen neuen Maßstab und sein Aufstieg markierte das Ende der, bis dahin dominanten, französischen Haute-Couture der Nachkriegszeit. Es folgte ein Run auf Promi-Designer und ein Kampf der Modehäuser um möglichst viel Publicity mittels bekannter Persönlichkeiten aus dem Film- und Showbusiness. Aufgrund von Antisemitismus-Vorwürfen wurde Galliano 2011 von Dior entlassen und wegen seinen fremdenfeindlichen Schimpftiraden in Paris tatsächlich zu einer Geldstrafe verurteilt, die jedoch zur Bewährung ausgesetzt wurde. Einige Jahre später fand er, wiederum mit Wintours Hilfe, ein neues Zuhause im Maison Margiela.
Er ist jetzt wieder einer der meistgefeierten Modedesigner unserer Zeit und seine Kreativität gilt bis heute als beispiellos. Was das Publikum am Ende des Tages wirklich in Ohnmacht fallen ließ, war die außergewöhnliche Handwerkskunst und fantastische Inszenierung. John Galliano hat uns somit wieder bewiesen, was legendär tatsächlich bedeutet.
Wird er weiter für Maison Margiela die Artisanal Kollektion kreieren oder darf man Spekulationen glauben schenken, dass er zu Fendi oder gar Dior wechselt? Vielleicht hat er auch die Designer der neuen MM6 Kollektion inspiriert – das bleibt abzuwarten.
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