Malerei der verschwindenden Nacht

Djabril Boukhenaïssi, der junge Gewinner des erstmalig ausgegebenen Kunst- und Umweltpreises von Guerlain und Lee Ufan Arles, öffnet die Türen seiner Künstlerresidenz in der südfranzösischen Stadt Arles. Er lädt uns ein in seine poetische Welt, in der die Nacht in geheimnisvolle Lilatöne verschwindet.

Interview: Galia Loupan, Fotos: Vincent Ferrané
adaptiert von Lola Kossack und Julia von Esebeck

Mann steht vor großer Wand und bemalt diese
"Für mich war offensichtlich, dass die Nacht violett ist. Und ich wollte, dass die Gemälde blass sind, wie die Nacht, wenn sie verschwindet – beleuchtet, elektrifiziert. Ich konnte keine dunkle Nacht malen." Foto: Vincent Ferrané

Das Projekt, an dem du während deines Aufenthalts in der Künstlerresidenz arbeitest, handelt vom Verschwinden der Nacht. Kannst du uns das genauer erklären?

Es geht darum, dass die Nacht durch Lichtverschmutzung immer mehr verschwindet – ein Phänomen, das mir erst durch einen Zeitungsartikel bewusst wurde. Schon als Kunststudent in Paris fühlte ich mich der Nacht verbunden, inspiriert von Literaturgrößen wie Novalis, Rilke und Goethe. Interessanterweise ist die Nacht auch in der Kunstgeschichte ein Thema; das war jedoch nicht immer der Fall. Die erste richtige Darstellung der Nacht sehen wir in einem Gemälde Piero della Francescas – das war in der Renaissance, ist also gar nicht mal so lange her. Im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, wurde die Nacht geschmäht, da sie für Aberglauben, Unwissenheit und Obskurantismus stand. Das 19. Jahrhundert romantisierte die Nacht und ihre Wesen, verkörpert durch die Figur der Fledermaus. Unsere heutige Zeit scheint dem 18. Jahrhundert zu ähneln, in dem Philosophen die Nacht symbolisch verschwinden ließen. Bei uns ist das Zeitalter der Elektrizität der Verursacher.

Hände halten Kreide in der Hand vor einer Leinwand
"Alle lebhaften Teile sind Pastell – sehr lebendige Blautöne." Foto: Vincent Ferrané

Warum ist das wichtig? Menschen haben immer versucht, Licht ins Dunkel zu bringen …

Wenn wir nicht die volle Erfahrung der Nacht machen können – die Sterne, die Dunkelheit –, verlieren wir unsere poetische Vorstellungskraft. Die Erkenntnis, wie winzig wir in einem immensen Universum sind, kann beängstigend sein, aber diese Angst ist wichtig. Für einen Skeptiker wie mich, der nicht an ein Leben nach dem Tod glaubt, ist diese Angst demütigend – und äußerst wertvoll.

Was meinst du damit?

Das ist eine tolle Geschichte. Ich arbeitete an einem Projekt zu Virginia Woolfs „Die Wellen“. Eines Abends im Landhaus hörte ich etwas ziemlich Großes an das Fenster klopfen. „Das muss eine Fledermaus sein“, dachte ich. Ich öffnete das Fenster und eine Motte kam ins Zimmer, die größte Art in Europa, genannt das Große Nachtpfauenauge. Verrückterweise passierte 1927 das Gleiche bei Virginia Woolfs Schwester, der Malerin Vanessa Bell. Während eines Südfrankreichurlaubs hörte sie ein Klopfen, ihr Ehemann sagte: „Bestimmt eine Fledermaus“, öffnete das Fenster und sah eine Motte. Vanessa Bell schrieb das ihrer Schwester in einem Brief und Virginia Woolf machte daraus eine Kurzgeschichte. Dieses Werk, ursprünglich „Die Motten“ genannt, wurde schließlich „Die Wellen“.
Wenn ich diese Geschichte erzähle, sagt jeder, das sei ein Zeichen! Aber ich glaube nicht an Zeichen; ich bin kein Mystiker. Ich denke, es ist ein schöner Zufall. Ob eine Bedeutung dahintersteckt, sei dahingestellt. Aber ich habe die Motte als Totemtier der Nacht adoptiert. Sie ist sehr präsent in meiner Arbeit.

Ein Mann sitzt an einem kleinen Tisch und malt ein Bild
"Die Umgebung, das war für mich Spazierengehen in der Stadt bei Nacht. In Arles kann man noch die Sterne sehen, sogar vom Stadtzentrum aus. Vor der Kirche Saint-Blaise kann ich die Sternbilder erkennen.", Foto: Vincent Ferrané

Welchen Einfluss hatte die Umgebung dieser Künstlerresidenz auf dich?

Ich kam bewusst nur mit leeren Leinwänden und wollte die Stadt Arles und Lee Ufans Kunstort im Hôtel Vernon auf mich wirken lassen. Das Erste, was ich bei meiner Ankunft besuchte, waren die Alyscamps – das ist der Ort, an dem Lee Ufan seine Ausstellung vor der Eröffnung seines Museums hatte. Es ist ein großer römischer Friedhof, ein außergewöhnlicher Ort. Ich dachte sofort: „Wenn ich über den Tod der Nacht sprechen will, kann ich das nicht ignorieren.“ Also war mein erstes Gemälde in den Alyscamps angesiedelt. Und von einem Gemälde zum nächsten blieb ich dort und schuf lila Himmel, jeder aufs Neue eine Überraschung. Ich wollte an einer Darstellung im Stil von Caspar David Friedrich arbeiten: Landschaften mit einer breiten horizontalen Struktur, mit gelegentlichen vertikalen Elementen, die die Gesamtharmonie verstärken.

Erzähl uns von deinem Prozess …

Ich verwende Öl auf Leinwand in einer Abfolge von Lasuren, wobei ich Teile der Leinwand unbemalt, kaum grundiert lasse. Das sieht man an diesen hellbraunen, raueren Stellen. Alle Lila-, Beige- und Gelbtöne sind Ölfarben, mit fast burgunderbraunen Nuancen. Und darüber reibe ich Pastell. Ich habe viel über Erinnerung, Nostalgie, gearbeitet und brauchte eine Technik, die die aufeinanderfolgenden Farbschichten sichtbar machen kann. Und Pastell ist etwas, das mit der Zeit verblasst … Wie es Schichten von Farbe gibt, gibt es auch Schichten von Bedeutung.

Die wirkliche Herausforderung für mich war die Verwendung dieses violetten Lilas. Es ist eine sehr starke Farbe, sehr schwer zu handhaben. Entweder muss man es abschwächen oder die anderen Farben sehr intensiv machen. Ein Hin und Her, das schwierig war; ich machte mir im ersten Monat meines Aufenthalts hier große Sorgen. Um ehrlich zu sein, ging es den anderen genauso. Im Nachhinein hat alles geklappt, aber ich musste mich schon ganz schön bei der Stange halten.

Du absolvierst deinen Künstleraufenthalt an einem Ort, der Lee Ufan gewidmet ist. Der 87-Jährige Koreaner ist eine weltbekannte Ikone der minimalistischen Kunst. Seine Arbeit ist sehr verschieden von deiner; hat Lee Ufan dich in irgendeiner Weise beeinflusst?

Ich war tief berührt von der schieren Materialität seiner Gemälde, besonders denen aus den 1970er-Jahren – „From Point“, „From Line“. Zu sehen, wie er eine Mischung aus Pigment und Kleber verwendete, die er immer wieder zog … Ich fand das schön, sehr poetisch und unglaublich eindrucksvoll. Da ich in seinem Haus arbeitete, kurz davor, an seinem Ort auszustellen, suchte ich nach einer Möglichkeit, dem Tribut zu zollen, was mich am meisten in seiner Arbeit berührt hatte.

Ich habe schon Pastell gerieben, bevor ich hierher kam, aber ganz zart. Hier versuchte ich, denselben Effekt wie Lee Ufan zu erzielen und rieb das Pastell zum ersten Mal aggressiv, zermalmte es, zerstörte es auf der Leinwand. Das ergibt eine dicke Schicht sehr matten Pastells. Ich ging viel weiter als je zuvor, hin zu einer Dicke, zu einer absoluten Präsenz. Dieser Künstleraufenthalt hat völlig neue Elemente in meine Technik gebracht, und ich weiß, dass ich dieser Entdeckung weiter nachgehen werde.

Lee Ufan hat mich auch mit seiner Bereitschaft inspiriert, nicht allein zu arbeiten, sondern mich von Akademikern, Schriftstellern, Philosophen beeinflussen zu lassen und zu versuchen, mit dem zu arbeiten, was bereits da ist. Ich finde, er sollte viele weitere junge Künstler inspirieren. Was mich angeht, weiß ich, dass mir all das einen Weg aufzeigt; es ist wirklich der Anfang von etwas. Ich werde das in den nächsten zehn Jahren erforschen.

Ausstellung 1. Juli bis 1. September 2024: Djabril Boukhenaïssi, „À ténèbres“ im Espace MA im zweiten Stock des Hôtel Vernon in Arles, Südfrankreich

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