Art and Activism: Große Nan Goldin Retrospektive in Berlin

Zwischen persönlichen Einblicken und politischem Engagement – die Neue Nationalgalerie in Berlin zeigt vom 23. November 2024 bis zum 6. April 2025 unter dem Titel „Nan Goldin. This Will Not End Well“ eine umfassende Werkschau der amerikanischen Fotografin.

Nan Goldin, Fashion show at Second Tip, Toon, C, So and Yogo, Bangkok (Modenschau im Second Tip, Toon, C, So and Yogo, Bangkok), 1992, Photographie, aus der Serie “The Other Side” © Nan Goldin. Courtesy the artist
Nan Goldin, Fashion show at Second Tip, Toon, C, So and Yogo, Bangkok (Modenschau im Second Tip, Toon, C, So and Yogo, Bangkok), 1992, Photographie, aus der Serie “The Other Side” © Nan Goldin. Courtesy the artist

Fotografien ohne Filter

Ihr geling es wie keiner anderen, intimste Momente einzufangen und ihren Bildern zugleich eine gesellschaftliche Relevanz zu geben: Nan Goldin hat mit ihrem Schaffen Pionierarbeit auf dem Gebiet der Fotografie geleistet und ihren ganz eigenen Stil geprägt. Ihre Bilder sind Momentaufnahmen von Beziehungen in allen Schattierungen, vom Leben zwischen Tag und Nacht, vom Kampf zwischen Autonomie und Abhängigkeit in einer Welt jenseits der normativen Gesellschaft. Dabei schafft es die Künstlerin eindrucksvoll, Themen wie Gender-Identität, AIDS, Drogen, Gewalt, Sexualität und Mental Health in ihren Werken abzubilden. So gelingt es ihr, die Augen der Betrachter:innen für neue Perspektiven und Realitäten zu öffnen.

Mit „Nan Goldin. This Will Not End Well“ widmet die Neue Nationalgalerie in Berlin der Ausnahmefotografin nun vom 23. November 2024 bis zum 6. April 2025 eine große Retrospektive. Entsprechend gibt die Werkschau einen tiefen Einblick in das Œuvre der Künstlerin. Die Ausstellung spannt einen umfassenden Bogen von den 1980er-Jahren bis in die heutige Zeit. Dafür werden in der oberen Halle der Neuen Nationalgalerie sechs verschiedene Werkreihen der Fotografin gezeigt. Ausgestellt sind diese in speziellen, von Star-Architektin Hala Wardé entworfen Pavillons. Dabei ist jeder Raum auf der Grundlage der Kunstwerke, die darin präsentiert werden, gestaltet.

Nan Goldin, C as Madonna in the dressing room, Bangkok (C als Madonna im Umkleideraum, Bangkok), 1992, Photographie, aus der Serie "The Other Side” © Nan Goldin. Courtesy the artist
Nan Goldin, C as Madonna in the dressing room, Bangkok (C als Madonna im Umkleideraum, Bangkok), 1992, Photographie, aus der Serie "The Other Side” © Nan Goldin. Courtesy the artist

Zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Mit der Konzentration auf Diashows und Videoinstallationen nimmt die Ausstellung in Berlin Bezug auf die Wurzeln von Nan Goldins künstlerischer Praxis. Schon im New York der frühen 1980er Jahren präsentierte sie schließlich ihre Arbeiten in Nachtclubs, Untergrundkinos und auf Filmfestivals live vor Publikum, indem sie die Bilder mit mehreren Projektoren zu einem eklektischen Soundtrack auf die Wände projizierte. Damals wie heute lässt diese Art der Präsentation die Betrachter:innen tief in die fotografische Geschichten der Künstlerin über Liebe, Intimität, Sucht und Verlust eintauchen.

Im Zentrum der Restrospektive steht Nan Goldins Opus Magnus „The Ballad of Sexual Dependency“. Der erste Teil dieser Bilderreihe wurde bereits 1986 im Kino Arsenal in Berlin gezeigt. Dies war ein erster Berührungspunkt der Künstlerin mit der deutschen Hauptstadt, aus dem eine lebenslange Liebe werden sollte. 1991 erhielt sie schließlich ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, zog in die Stadt und kehrt seither immer wieder zurück: „Die besten Jahre meines Lebens waren hier in Berlin“, sagte Goldin 2010. So ist es nur folgerichtig, dass sie nun mit sechs ihrer wichtigsten Werkreihen an diesen Ort zurückkehrt:

Nan Goldin, The Hug, New York City (Die Umarmung, New York City), 1980, Photographie, aus der Serie “The Ballad of Sexual Dependency” © Nan Goldin. Courtesy the artist
Nan Goldin, The Hug, New York City (Die Umarmung, New York City), 1980, Photographie, aus der Serie “The Ballad of Sexual Dependency” © Nan Goldin. Courtesy the artist

"The Ballad of Sexual Dependency" – intim und echt

Nan Goldins Hauptwerk „The Ballad of Sexual Dependency“ gilt als Meilenstein der Fotografie des 20. Jahrhunderts. Es entstand zwischen 1981 und 2022, wobei es von der Künstlerin über die Jahre kontinuierlich weiterentwickelt wurde. Die Fotoreihe dokumentiert das Leben von Goldins engstem Umfeld in intimen Momentaufnahmen. Dabei beschreibt Nan Goldin das Werk als ihr persönliches Tagebuch, das sie mit der Öffentlichkeit teilt. 

Die Fotografien zeichnen sich durch ihre rohe, ungeschönte Ästhetik aus. Goldins charakteristischer Snapshot-Stil betont hierbei die Unmittelbarkeit und Authentizität des Moments. Mit „The Ballad of Sexual Dependency“ ist es Nan Goldin nicht nur gelungen, die Grenzen zwischen Kunst und Dokumentation zu verwischen, sondern auch tabuisierte Themen in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken. So hat Nan Goldins offene Darstellung der LGBTQ+-Community, Drogensucht oder der Auswirkungen von AIDS einen Teil zur Entstigmatisierung beigetragen.

"The Other Side" – Fokus auf Diversity

In ihrer Werkreihe „The Other Side“ (1992-2021) widmet sich Nan Goldin ganz der Darstellung und Würdigung von Transgender-Personen und der Drag-Szene. Der Titel der Serie ist einer Bar in Boston entlehnt, die für die LGBTQ+-Community von großer Bedeutung war. Ein wesentlicher Aspekt dieser Fotoreihe ist Goldins tiefe Verbundenheit mit ihren Motiven. Immerhin war sie nicht nur Fotografin, sondern Teil der Gemeinschaft, die sie porträtierte. So löste sie die Grenzen zwischen Objekt und Subjekt auf, indem sie die gleichen Kämpfe durchlebte, aber auch die gleichen Hoffnungen und Träume teilte, wie die Menschen vor ihrer Kamera. Mit „The Other Side“ ist es Nan Goldin gelungen, einen wichtigen Beitrag zur Dokumentation der LGBTQ+-Kultur der 1970er bis 2010er Jahre zu liefern.

Nan Goldin, Picnic on the Esplanade, Boston (Picknick auf der Esplanade, Boston), 1973, Photographie, aus der Serie “The Other Side” © Nan Goldin. Courtesy the artist
Nan Goldin, Picnic on the Esplanade, Boston (Picknick auf der Esplanade, Boston), 1973, Photographie, aus der Serie “The Other Side” © Nan Goldin. Courtesy the artist

„Sisters, Saints and Sibyls“ – Nan Goldins Bilder eines tragischen Schicksals

Noch persönlicher wird es bei Nan Goldins Werk „Sisters, Saints and Sibyls“, das sie in Jahren 2004 bis 2022 kuratiert hat. Immerhin dokumentiert die Künstlerin hier den eigenen Schmerz als Grundlage ihres künstlerischen Schaffens. So erzählt der 30-minütige Film die Geschichte von Goldins älterer Schwester Barbara, die sich mit 18 Jahren das Leben nahm. Die Künstlerin verwebt dabei Familienfotos, religiöse Bilder und eigene Aufnahmen zu einer emotionalen Auseinandersetzung mit persönlichem Verlust, psychischer Gesundheit und Rebellion. Projiziert werden die Bilder auf drei Videoleinwände, die an ein klassisches Triptychon erinnern. Mit dieser berührenden Arbeit reflektiert Nan Goldin ihr individuelles Schicksal und wirft zugleich wichtige gesellschaftliche Fragen auf.

Nan Goldin, Self-portrait with eyes turned inward, Boston (Selbstportrait mit nach Innen gedrehten Augen, Boston), 1989, Photographie, aus der Serie “Sisters, Saints and Sybils” © Nan Goldin. Courtesy the artist
Nan Goldin, Self-portrait with eyes turned inward, Boston (Selbstportrait mit nach Innen gedrehten Augen, Boston), 1989, Photographie, aus der Serie “Sisters, Saints and Sybils” © Nan Goldin. Courtesy the artist
Nan Goldin, Elephant mask, Boston (Elephantenmaske, Boston), 1985, Photographie, aus der Serie “Fire Leap” © Nan Goldin. Courtesy the artist
Nan Goldin, Elephant mask, Boston (Elephantenmaske, Boston), 1985, Photographie, aus der Serie “Fire Leap” © Nan Goldin. Courtesy the artist

"Fire Leap" – 
Kindheit als kreative Quelle

In einem interessanten Kontrast zu den oft ernsten, düsteren Thematiken von Nan Goldins Œuvre steht die Werkreihe „Fire Leap“. Die Serie, die die Künstlerin in den Jahren 2010 bis 2022 zusammengestellt hat, zeigt ihre unbeschwerte, leichte Seite. So besteht die Diashow aus Aufnahmen von Kindern aus ihrem persönlichen Umfeld, die sie beim Aufwachsen begleitet hat. Die kleinen Menschen faszinieren Nan Goldin vor allem wegen ihrer vollkommenen Freiheit, natürlichen Unschuld und der Fähigkeit, in ihrer eigenen Welt zu leben.

Der Ausnahmefotografin gelingt es, die puren Emotionen der Kinder bildlich einzufangen – von Melancholie bis Ausgelassenheit. Die Aufnahmen reichen dabei zurück bis ins Jahr 1978 und bieten einen Einblick in ein kindliches Bewusstsein, das noch nicht von gesellschaftlichen Grenzen eingeschränkt ist. Mit der Serie beweist Nan Goldin, dass sie leichte und schwere Themen mit derselben Intensität und Intimität behandeln kann.

"Sirens" und "Memory Lost" 
– zwischen Faszination und Gefahr

Zwei Seiten derselben Medaille zeigt Nan Goldin in ihren Werkreihen „Memory Lost“ und „Sirens“. Während „Sirens“ (2019 – 2020) sich auf die ekstatischen Momente des Drogenrauschs konzentriert, beleuchtet „Memory Lost“ (2019 – 2021) die dunklen Seiten der Abhängigkeit. Dabei setzt sich die Künstlerin in mit ihrer eigenen Drogensucht auseinander. Immerhin war sie selbst bis zu einem Entzug im Jahr 1989 von Heroin abhängig. 2014 verschrieb man ihr wegen einer Operation das Schmerzmittel Oxycodon, das sie erneut in die Sucht führte. Nach einer Überdosis kostete es sie sogar fast das Leben. Die Serien fangen Szenen aus ihrem Leben und dem ihres Freundeskreises ein und machen den Schmerz und die flüchtigen Momente der Schönheit in einem von Sucht geprägten Leben sichtbar.

Beide Bildreihen hängen eng mit der aktivistischen Tätigkeit der Fotografin zusammen. So rief sie nach Überwindung ihrer Oxycodon-Sucht die Organisation P.A.I.N. (Prescription Addiction Intervention Now) ins Leben. Deren Ziel ist es, auf das Problem der Opioid-Krise in den USA aufmerksam zu machen. Die Aktivisten richten sich dabei gezielt gegen die Milliardärsfamilie Sackler, deren Firma Oxycodon vertreibt. Da die Sacklers wichtige Spender einiger bekannter internationaler Museen sind, demonstrierten die Fotografin und ihre Mitstreiter:innen in renommierten Institutionen wie dem New Yorker Guggenheim Museum oder dem Metropolitan Museum of Art. So konnten sie bereits viele Ausstellungshäuser dazu bewegen, die Zusammenarbeit mit den Sacklers zu beenden. Damit ergänzt sich Nan Goldins künstlerische Arbeit mit ihrem Engagement für Aufklärung und gesellschaftliche Veränderung.

Nan Goldin, Untitled (Ohne Titel), 1982, Photographie, aus der Serie „Memory Lost“ © Nan Goldin. Courtesy the artist
Nan Goldin, Untitled (Ohne Titel), 1982, Photographie, aus der Serie „Memory Lost“ © Nan Goldin. Courtesy the artist

Stay In Touch

Be the first to know about new arrivals and promotions